5 | Rechtschreiblernen beim Textschreiben
Individuell Bedeutsames richtig schreiben
Kinder schreiben für sie bedeutsame Wörter nicht nur häufiger, sondern auch häufiger richtig. Das deutet darauf hin, dass sie bei solchen persönlich bedeutsamen Wörtern eher bereit sind, die Aufmerksamkeit auf die Struktur des Wortes zu richten, als bei vorgegebenen und/oder kontextunabhängigen Wörtern. Der (persönlich) bedeutsame Gebrauch von Schrift kann also auch einen Zugang zur Schriftstruktur eröffnen.
Hierzu kann Unterricht unterschiedliche Wege eröffnen: durch sachbezogene, narrative, ästhetische oder soziale Kontexte, in denen der Gebrauch der Schrift individuelle Bedeutsamkeit entfaltet (s. Unterrichtsbeispiele zum Bild-Wörterbuch). Vor allem beim Textschreiben können Kinder Rechtschreibung für sich als bedeutsam erfahren und den Willen entwickeln, richtig schreiben zu wollen – damit andere (besser) lesen können, was sie ausdrücken möchten. Texte für Leser*innen zu schreiben (und nicht nur für Hörer*innen), ist also eine wesentliche Motivation für das Rechtschreiblernen. Wie aber können Texte von Anfänger*innen so veröffentlicht werden, dass andere sie gut lesen können und sie zugleich das eigenaktive Rechtschreiblernen anregen?
Das Bild-Wörterbuch kann dieses Interesse unterstützen, indem für den Schriftgebrauch in der Klasse bedeutsame Wörter in das Wörterbuch aufgenommen (s. u. Unterrichtsbeispiel „Apfel“) und auch individuell bedeutsame Wörter aus dem Text eines Kindes ergänzt werden (z. B. das Wort Löwin aus dem vom Kind geschriebenen Löwenbrief in Baustein 3). Damit sind auch diese bedeutsamen Wörter Grundlage für die unterschiedlichen, in den Bausteinen vorgeschlagenen Impulse zum entdeckenden Lernen und zur Generierung orthografischer Muster. Dabei wird stets Schriftorientierung mit Schriftgebrauch verbunden: Textschreiben ist ein zentraler Anlass zum Rechtschreiblernen.
Wie dieses inhaltliche Interesse für ein Wort so aufgegriffen werden kann, dass das eigenständige Nachdenken über Rechtschreibung gezielt angeregt wird, zeigt das folgende Beispiel aus einer 1. Klasse (aus: Hüttis-Graff/Schüler (2018): Schreiben und Rechtschreiben verbinden. In: Die Grundschule, Heft 6, S. 16-19).
Unterrichtsbeispiel: Wie das Wort Apfel bedeutsam wird
Nach den Herbstferien findet in Klasse 1 ein „Apfelprojekt“ statt. Die Lehrerin hat einen Korb voller Äpfel mitgebracht und fordert die Kinder auf, Vermutungen anzustellen: „Wie sieht der Apfel von innen aus?“ Dazu soll jedes Kind eine Zeichnung anfertigen. Erst danach werden die Äpfel tatsächlich (längs) aufgeschnitten und genau abgezeichnet. Es geht darum, den Blick zu schärfen und zu erforschen, welche Teile ein Apfel hat.
Die Ergebnisse werden zusammengetragen, Begriffe auf Karten festgehalten und zugeordnet (STIEL, SCHALE, FRUCHTFLEISCH, KERNE, KERNGEHÄUSE, BLÜTENREST) und später auf die Querschnittszeichnung eines Apfels übertragen. Für Schreibanfänger*innen ist die Schriftstruktur dieser Wörter eine Herausforderung, ihre Auswahl aber ist funktional im Kontext des Projektes und die Wörter sind an zahlreichen Merkmalen der Schrift (wieder) zu erkennen. Wie auch das Wort APFEL hängen die Wortkarten (mit der Zeichnung) an der Projektwand gut sichtbar im Klassenraum und bieten Orientierung beim Beschriften der eigenen Zeichnungen, aber auch einen Fundus für schriftstrukturelle Entdeckungen.
Viele kleine Aufgaben (die beispielsweise in Form von Stationsarbeit organisiert werden können) zum Schreiben und Stempeln des Wortes APFEL, zum Lesen und Rätseln, zum Zeichnen, zur Erkundung von Geschmack und Geruch und ein Ausflug zum Apfelbaum tragen dazu bei, das Wissen über den Apfel und die Schriftstruktur des Wortes zu erweitern und zu festigen. Schließlich lautet die Aufgabe: „Schreibe eine Apfelgeschichte.“
Zunächst werden die Kinder gefragt, was für Arten von Geschichten sie kennen. Die Vielfalt ist groß: Tiergeschichten, Abenteuergeschichten, Gruselgeschichten, Detektivgeschichten, Liebesgeschichten, traurige, spannende, lustige Geschichten… Schon bei der Sammlung kommen den ersten Kindern Ideen für die Apfelgeschichte. Jana kichert: „Oh ja, ich schreibe, wie der Apfel sich verliebt!“
Vor dem Schreiben können die Kinder einen Apfel (oder mehrere) auf ihr Blatt stempeln und dazu zeichnen. Helena zeichnet zwei Gespenster, die „uu“ heulen; der Apfel hängt am Baum und schreit „aaa“. Der Text erzählt, was davor geschah. Auch wenn ihre Geschichte an einem spannenden Moment endet, versucht Helena sich am Genre der Gespenstergeschichte:
Kinder, die ihre Geschichte noch nicht selbständig aufschreiben können, können ihre Geschichte einer Erwachsenen oder einem älteren Schüler (Kooperation Klasse 1 und Klasse 3/4) diktieren. Anschließend markieren sie das Wort Apfel oder auch bekannte Buchstaben im eigenen Text jeweils mit derselben Farbe – oder sie schreiben den diktierten Text ab.
Die Lehrerin von Helena hat die Geschichten aller Kinder abgetippt und daraus ein Lesebuch für die Klasse gebunden, in dem die beiden Ausgaben der Geschichte – eine Kopie des Originaltextes und die orthographisch korrekte Abschrift (auf grünem Papier) – nebeneinanderstehen
Indem Helena das Wort Apfel nicht mehr im Sachzusammenhang benutzt, sondern in ihrer eigenen Erzählung vermenschlicht, weitet sich für sie als Schreiberin und ihre Mitschüler*innen beim Vorlesen der Geschichte seine Bedeutung. Wie die meisten Kinder in ihrer Klasse schreibt Helena das Wort Apfel orthographisch richtig, obwohl deutlich wird, dass die Verschriftung des Vokals in der unbetonten Silbe noch nicht ihrem Zugriff entspricht (*EINN statt einem und einen, *KAM statt kamen, *GSCHBÄNZT statt Gespenst). Die Auseinandersetzung mit dem Wort Apfel ermöglicht Helena also, aufmerksam zu werden auf ein schriftstrukturelles Phänomen und ihren Schreibzugriff zu erweitern.
Vom Wortgebrauch zur Wortstruktur
Seinen Text und die Abschrift (auf weißem Papier) bekommt jedes Kind auch für das eigene Projektbuch mit der Aufgabe, im abgetippten Text alle Buchstaben zu markieren, die es in seinem Text richtig geschrieben hat.
Indem diese Aufgabe hervorhebt, was das Kind schon kann – und nicht die Fehler –, wird das selbstständige Denken angeregt. Bei dem Vergleich der Norm mit ihrem Text kann Helena (und ihre Mitschülerinnen und -schüler) aufmerksam werden z. B. auf fehlende oder überflüssige Buchstaben und orthographische Besonderheiten.
Nach dem Vorlesen ihrer Geschichte und einer den Inhalt fokussierenden Rückmeldung zu Gelungenem könnte Helena ein Wort aus ihrem Text aussuchen, das ihr besonders wichtig ist, ihre Schreibung mit der orthographisch korrekten Schreibweise vergleichen und ihre Beobachtungen der Klasse (mit-)teilen. Findet ein solches Wort danach Eingang in ihr Bild-Wörterbuch, sind auch in ihm Schriftorientierung und Schriftgebrauch vereint. Die Kinder erhalten ihr Bild-Wörterbuch also später mit den von der Lehrperson ergänzten klassenspezifischen Wörtern aus dem vorangegangenen Projekt oder die Kinder ergänzen die Wörter selbstständig.
Gelingensbedingungen dieses Unterrichts sind die Vertiefung der inhaltlichen Bedeutsamkeit des Wortes Apfel durch die vielfältigen Erfahrungen mit dem Gegenstand und das Schreiben einer eigenen Geschichte mit diesem Wort, die Leser*innen findet und Textgespräche anregt.. Hinzu kommt die könnensorientierte rechtschriftliche Selbstkontrolle und die Auswahl individuell wichtiger Wörter aus dem eigenen Text für den rechtschriftlichen Austausch und das Wörterbuch. Der Kindertext wird nicht nur der Norm gegenübergestellt (Kinderschrift – Erwachsenenschrift), sondern durch das aktive Unterpunkten des Gelungenen in der korrekten Abschrift werden gezielt rechtschriftliche Entdeckungen und Denkprozesse angestoßen.
Listen, um Wichtiges zu sammeln und zu teilen
Es müssen nicht gleich verbundene Texte sein, mit denen Kinder ihnen Bedeutsames festhalten, das für die Schriftkultur in der Klasse wichtig ist. Auch ohne schon selbstständig Wörter, Sätze oder Texte schreiben zu können, ermöglicht das Bild-Wörterbuch, wichtige Informationen für sich und andere in Wortlisten festzuhalten. Kinder können sich so besser kennenlernen, ihre Interessen einbringen und miteinander ins Gespräch kommen. Und natürlich kann die Lehrperson eine Rückmeldung unter die Liste schreiben.
Inhaltlich können in der Klasse aktuelle Themen und Fragen der Kinder von der Lehrperson aufgegriffen oder auch Themen angestoßen werden:
- Womit spielst du gern?
- Welche Wörter kennst du aus Liedern, Geschichten oder Filmen?
- Was hast du in deinem Zimmer, was im Ranzen?
- Was hast du schon mal gefunden?
- Welche Wörter findest du schwer, welche leicht?
- Was ziehst du Fasching an?
In der Klasse können Listen zu mehreren Themen bereitliegen, damit Kinder immer dann, wenn sie Zeit haben, eine passende auswählen und selbstständig Wörter darauf abschreiben können – oder eine neue Liste zu einem eigenen Thema aufmachen (s. Blanko-Vorlage). Wenn die Liste fertig ist, kann das Kind sie auch abschneiden, bevor es sie in der Klasse aufhängt – Kinder müssen also nicht alle Zeilen füllen, sondern bestimmen selbst die Textlänge und das Wichtige.
Viele Wörter können aus dem individuell und klassenspezifisch ergänzten Wörterbuch in die eigene Liste abgeschrieben werden. Zu manchen Themen wie „Womit verkleidest du dich zu Fasching?“ lohnt es sich, von den Kindern zusätzlich benötigte Wörter auf Wortkarten zu schreiben und z. B. auf der Fensterbank für alle bereitzustellen. Alternativ kann die Lehrperson auch individuell benötigte Wörter ins Wörterbuch des Kindes eintragen. Haben Kinder rechtschriftliche Fehler gemacht, kann das von der Lehrperson z. B. auf einem Klebezettel richtig geschriebene Wort die genaue rechtschriftliche Selbstkontrolle durch Unterpunkten des Richtigen in der Abschrift ermöglichen (s. Apfel-Beispiel) oder das Wörterbuch die Selbstkontrolle und Korrektur von markierten Fehlerwörtern unterstützen (Zwei-Finger-Methode).
Die Schriftstruktur ausgewählter Wörter gemeinsam klären
Bevor für die Schriftkultur in der Klasse wichtige Wörter ins Wörterbuch aufgenommen werden, kann über ihre Rechtschreibung gemeinsam nachgedacht werden. Dafür bieten sich Platzhalterstriche oder ein Rechtschreibgespräch in der Klasse an. Beide Formate sind in sich differenzierte Lernsituationen für Kinder zu rechtschriftlichen Phänomenen, die ihnen unterschiedliche Zugriffe eröffnen und zugleich den Lehrpersonen Lernbeobachtungen ermöglichen. Dies wird jeweils am Beispiel Fasching exemplarisch gezeigt.
Ein Wort auf Platzhalterstrichen gemeinsam erarbeiten:
Die Lehrperson kündigt an, dass die Klasse das baldige Faschingsfest gemeinsam vorbereiten wird. Für jeden Buchstaben des Wortes Fasching macht sie einen Strich an die Tafel und markiert ggf. mehrteilige Grapheme wie <sch> oder <ng> mit einem Bogen darunter. Gemeinsam tragen die Kinder die Buchstaben zusammen und die Lehrperson schreibt sie auf die richtigen Platzhalterstriche. Falsche Hypothesen von Kindern werden unter den jeweiligen Strich geschrieben und mit einem anerkennenden Kommentar wie „Könnte man meinen“ durchgestrichen, um dann gemeinsam zu klären, warum die Stelle so schwierig ist und was der richtige Buchstabe ist (s. u.).
Dieses durch die Platzhalterstriche und die Markierung mehrteiliger Grapheme vorstrukturierte gemeinsame Erarbeiten eines von allen gebrauchten Wortes kann regelmäßig durchgeführt werden:
- zur ritualisierten Aktualisierung des Wochentages an der Tafel („Montag“, …),
- als Sprungbrett in das Schreiben von gleichartig aufgebauten aussagekräftigen Sätzen wie „Ich mag …“ oder „Ich kann …“,
- für ein Wort aus dem vorgelesenen Bilderbuch, das jedes Kind für seinen Text zu dieser Vorgabe braucht (z. B. „Frederick“ oder „Riese“).
Die erarbeiteten Wörter können in das Bild-Wörterbuch und damit auch in die Wörterbucharbeit aufgenommen werden.
Das gemeinsame Erarbeiten von zentralen Wörtern gibt durch die Platzhalter und Markierungen eine Orientierung an der Norm und klärt zugleich rechtschriftliche Unsicherheiten der Kinder. Kinder werden sich dabei typischer Schwierigkeiten bewusst, lernen aber auch orthografische Strukturen und Zugriffe kennen und sich darüber auszutauschen.
Rechtschreibgespräch über ein Wort:
Alle Kinder versuchen zunächst das Wort Fasching selbst zu (er)schreiben, um den eigenen Entwurf dann mit dem richtig an die Tafel geschriebenen Wort zu vergleichen. Die Stellen, die die Kinder klären wollen, werden von der Lehrperson an der Tafel markiert. Nach einer Murmelphase zum Austausch mit dem Partner über diese Denkstellen werden diese Rechtschreibphänomene im Unterrichtsgespräch gemeinsam geklärt:
- hilfreiche Strategien werden demonstriert und von der Klasse auch nachgemacht – der Anlaut <F> im Wort Fasching bspw. deutlich vorgesprochen und einem F-Wort auf der Buchstabentabelle oder aus dem Wörterbuch zugeordnet, z. B. „Ffffasching mit F wie Fisch“,
- eigene Tricks werden verraten – z. B. Analogieschlüsse wie: „Hinten schreibe ich Fasching wie Ring“ oder „V wie bei Vater und Vogel ist sehr selten!“
- eine schwierige Stelle, die ein Kind (sich) noch nicht erklären kann, merkt es sich. Merkwörter sind also nicht nur Fremdwörter und andere Ausnahmeschreibungen, sondern Merken ist auch ein früher Zugriff auf Rechtschreibung.
Bei der Besprechung zusammengesetzter Wörter wie Verkleidung werden zuvor die Bausteine durch farbiges Unterstreichen der Morpheme kenntlich gemacht („Aus welchen Bausteinen ist das Wort gebildet?“), da man immer über die Teile separat nachdenken muss, um die Rechtschreibung zu verstehen, z. B.:
- „<Ver> ist eine typische Vorsilbe und wird immer mit <v> geschrieben. Wer kennt noch andere Wörter mit <ver>?“
- „<ung> ist eine typische Wortendung von Nomen – diese Wörter werden immer groß geschrieben. Wer kennt noch andere Wörter mit <ung>?“
Durch die Nachfrage wird der Transfer angeregt. Schreibt die Lehrperson die von den Kindern genannten analogen Wörter an, macht sie die Systematik unserer Rechtschreibung für die Kinder sichtbar und unterstützt ihre Musterbildung, gerade wenn das Wiederholte untereinander geschrieben und markiert wird:
Übertragbare Rechtschreibstrategien können nicht nur benannt, demonstriert und mitgemacht, sondern zudem mit einem Zeichen festgehalten werden, sodass Kinder damit in ihren Texten auch gezielte Hinweise für die Korrektur erhalten können, z. B.
- Merken mit einem M
- Verlängern zur Überprüfung möglicher Auslautverhärtungen mit:
Rechtschreibgespräche orientieren sich zugleich an der Norm und den rechtschriftlichen Fragen der Kinder.
Würde man allein von den Schreibweisen der Kinder ausgehen und sie an die Tafel bringen, wären manche Kinder verwirrt. In Rechtschreibgesprächen gilt es vielmehr gemeinsam zu (er)klären, warum das von der Lehrperson angeschriebene Wort so geschrieben wird. Dabei geraten über die thematisierten Unsicherheiten und Fragen der Kinder rechtschriftliche Phänomene und Lernerstrategien in den Aufmerksamkeitsfokus und das rechtschriftliche Nachdenken.